"Räume schaffen, damit Menschen kreativ werden."

Herr Professor Kupper, seit wann macht sich der Mensch Gedanken über die Zukunft?

Das kommt auf die Definition von Zukunft an. Menschen fragen sich seit jeher, was morgen sein wird. Zum Beispiel legen sie Vorräte für schwierige Zeiten an. Man müsste die Frage anders stellen: Wie gehen Menschen mit einer Idee von einem Morgen oder einer fernen Zukunft um?

Eine Antwort gibt der Historiker Lucian Hölscher in seinem Buch «Die Entdeckung der Zukunft». Danach begannen die Menschen erst relativ spät, ein Zukunftsbild von sich und der Gesellschaft zu entwerfen. Lange herrschte die Vorstellung vor, dass die Zukunft auf uns Menschen einfach zukommt, daher das französische Wort «avenir». Erst im 18. Jahrhundert kommt eine andere Vorstellung mit dem Begriff «futur» auf: eine Zukunft, auf die man zugeht und die man gestalten kann.

Können Sie als Historiker nach dem Motto «alles wiederholt sich» die Zukunft vorhersagen?

Nein, das geht nicht. Die Konstellationen, unter denen eine bestimmte Entwicklung eintritt, sind immer wieder neu. Was aber geht, ist, anhand der Vergangenheit mögliche Zukünfte zu entwerfen. Auch darin verbirgt sich übrigens ein neues Verständnis von Zukunft: Während Zukunft lange nur in der Einzahl verwendet wird, kommt in den 1960er-Jahren zusammen mit dem Computer auch die Vorstellung auf, dass es nicht nur eine Zukunft gibt, sondern offene Entwicklungen. Diese Zukunftsszenarien wurden wie so oft erst für militärische, später auch für gesellschafts- und energiepolitische Zwecke genutzt. In der Schweiz arbeitet man mit Energieszenarien seit den 1970er-Jahren. Schon damals wurde übrigens ein Szenario mit erneuerbaren Energien und ohne Kernenergie entworfen, das aber von der Energiewirtschaft als «Fiktion» abgetan wurde.

Bleiben wir bei Energie. Welchen Einfluss hat Energie auf die Entwicklung einer Gesellschaft?

Energie ist ein guter Indikator für die Möglichkeiten einer Gesellschaft: Wie viel Energie können die Menschen mobilisieren, um ihre Welt zu gestalten? Die Erschliessung zusätzlicher Energiequellen hat es Gesellschaften erlaubt, Wachstumsgrenzen zu durchbrechen. Und diese Brüche sind historisch betrachtet extrem. Mit jeder neuen Energieform hat sich der Pro-Kopf-Verbrauch vervielfacht: Hatten die Agrargesellschaften zwei- bis fünfmal mehr Energie zur Verfügung als Jäger und Sammler, verdoppelte sich diese Menge mit der Nutzung der Kohle. Mit dem Erdöl hat sich der Pro-Kopf-Verbrauch nochmals verdreifacht – und das bei stark wachsenden Bevölkerungszahlen!

Die fossilen Energien waren aber nicht nur eine neue gewaltige Energiequelle. Sie wurden auch nicht länger an Ort und Stelle gewonnen und genutzt, sondern mussten vom Ort der Produktion zum Ort des Konsums transportiert werden.

Wie haben sich diese Innovationen durchgesetzt?

Ich rede in meinen Vorlesungen oft über Joseph Schumpeter. Gemäss seinem Modell der «Schöpferischen Zerstörung» müssen alte Strukturen verdrängt und abgetragen werden, damit Neues entstehen kann. Auch der Energiesektor verändert sich natürlich, aber das Energiesystem ist in den letzten 200 Jahren vor allem durch Expansion gekennzeichnet. Durch alle Epochen ist zu beobachten, dass das Neue nicht das Alte ersetzt, sondern sich auf dieses «draufsetzt».

Geben Sie uns dafür ein Beispiel?

Sehr deutlich wird das am Beispiel der Kohle: Mit dem Erdöl, der Grosswasserkraft und der Kernenergie ist der Anteil der Kohle am Gesamtenergieverbrauch zwar gesunken, in absoluten Zahlen ist sie aber weltweit noch immer bedeutend. Das liegt daran, dass die Strukturen von Energiesystemen sehr robust sind und sich nicht so schnell zerstören lassen, wie Schumpeter das sagen würde. Zwar gab es auch im Energiesystem Krisen und Einbrüche, aber bisher keine vollkommene Zerstörung.

Was bedeutet das für die laufende Transformation des Energiesystems?

Heute stehen wir vor der Herausforderung, das Energiesystem nachhaltig zu gestalten. Das geht nicht in den alten Strukturen, sondern es braucht ganz neue Strukturen sowohl aufseiten der Produktion als auch des Konsums. Das erfordert ein vollständiges Umdenken.

Sie haben in einer Studie die «Energieregime» der letzten 200 Jahre untersucht. Was kennzeichnet ein Energieregime?

Am offensichtlichsten unterscheiden sich diese Regime durch die Energieträger sowie die Technologien und Infrastrukturen, um Energie zu produzieren, zu transportieren, zu verteilen und schliesslich zu verbrauchen. Diese Technologien und Infrastrukturen sind gesellschaftlich eingebettet mit entsprechenden Normen und Werten.

Was bringt es, diese Regime zu untersuchen?

Das Bundesamt für Energie, das diese Untersuchung in Auftrag gegeben hat, wollte ein historisch fundiertes Verständnis, wie die heutige Situation entstanden ist. Das ist gerade im Energiesektor wichtig, da sich diese Strukturen über lange Zeiträume entwickelt haben und hohe Beharrungskräfte aufweisen. Wie gesagt: Das heutige System ist während 200 Jahren durch ständige Expansion entstanden – und diese Entwicklung muss nun durchbrochen werden.

Das künftige Energiesystem soll dezentral organisiert sein. Sehen Sie bereits eine Entwicklung weg von den «historischen » Grossanlagen hin zu vielen kleineren Anlagen?

Ehrlich gesagt, sehe ich derzeit nicht, dass dieser Umbau im grossen Stil stattfindet. Noch stehen zwei Entwicklungen nebeneinander: Auf der einen Seite entsprechen die Offshorewindparks, die an starke europäische Transportnetze angebunden werden, eher dem Trend der letzten Jahrhunderte zu immer grösseren Strukturen. Auf der anderen Seite stehen einzelne Solarstromproduzenten oder Eigenverbrauchsgemeinschaften für den Trend zu Selbstversorgung und lokaler Autonomie. Was sich letztlich durchsetzt, kommt auf die gesellschaftliche Zielvorstellung an und damit auch auf die Bereitschaft der Gesellschaft, sich mit zu verändern.

Brauchen wir für diese Veränderung auch Persönlichkeiten und Pioniere, wie wir sie aus der Geschichte kennen?

Ich rede nicht gerne von solchen Pionieren. Natürlich gab es diese Menschen, die die Geschichte geprägt haben. Aber auch sie konnten ihre Ideen und Visionen nur verwirklichen, weil ihnen die gesellschaftlichen Umstände das ermöglicht haben.

Zwei entgegengesetzte Beispiele für diese These: Nehmen Sie die jüngste Geschichte der erneuerbaren Energien. Auch wenn die deutsche Energiewende wegen der hohen Kosten viel kritisiert wird, hat sie den Durchbruch der Solartechnologie gebracht, weil sich Menschen darauf verlassen konnten, dass sich eine entsprechende Investition lohnt. Umgekehrt wurden bereits in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen alternative Energietechnologien entwickelt. Diese Entwicklung wurde aber nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Erdölschwemme im Keim erstickt. Hinzu kam die gesellschaftliche Vision eines Atomzeitalters, die wesentlich beeinflusst hat, wohin Forschungsgelder flossen und wie sich Unternehmen ausrichteten.

Wenn wir also heute die Idee eines neuen nachhaltigen Energiesystems verfolgen, müssen wir Räume schaffen, damit Menschen Perspektiven sehen und kreativ werden.


Prof. Dr. Patrick Kupper leitet das Kernfach Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Innsbruck und hat gemeinsam mit Mag. Irene Pallua die Studie «Energieregime in der Schweiz seit 1800» verfasst.


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