Aus technologischer Sicht haben wir die Mittel zur Hand, um von unserer verhängnisvollen Abhängigkeit von kohlenstoffbasierten Energieträgern weg­zukommen. Die Frage ist, was wir dafür bezahlen müssen, denn gratis ist
die Transformation nicht zu haben.

«Jede Veränderung bedeutet Destabilisierung und hat damit ihren Preis. Je dichter vernetzt und je grösser die Abhängigkeiten der verschiedenen Akteure sind, umso höher steigen die Kosten», hält Didier Sornette fest. Der Inhaber des Lehrstuhls für Entrepreneurial Risks der ETH Zürich ist auf Analysen und Vorhersagen in komplexen Systemen ­spezialisiert; vom Finanzmarkt über Erdbeben bis neuerdings hin zum Energiesektor. Dabei hat er nicht nur die wirtschaftlichen Belastungen im Blick. Unser über Jahrhunderte gewachsenes Energiesystem tangiert praktisch alle ­Lebensbereiche. Der Physiker ist darum überzeugt: «Wenn wir ein derartiges ­System zu stark destabilisieren, werden wir auch einen sozialen und politischen Preis bezahlen müssen.»

Zusammenbruch durch ­grund­legende Transformation

Er verweist auf die Staaten Osteuropas nach dem Ende der Sowjetunion. Deren grundlegende Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft hatte eine allgemeine Rezession ausgelöst, indem die bestehenden Wirtschaftsstrukturen zusammenbrachen, während sich die neuen erst mit Verzögerung aufbauen konnten.

Wenig Verständnis hat der Systemspezialist darum für die Entscheidung von Ländern wie der Schweiz, aus den kohlenstoffbasierten Energieträgern auszusteigen und gleichzeitig die Kernenergie ganz aufzugeben. Damit verbunden sei nämlich auch ein grundlegender Umbau der Architektur unserer Stromerzeugung weg von einer zentralen Produktion hin zu einer stark verteilten Erzeugung. Dieses zusätzliche Risiko einzugehen, ist für ­Sornette umso weniger nachvollziehbar, als seine eigenen Analysen zum Schluss kommen, dass die Kernkraft über den gesamten Lebenszyklus gesehen umweltverträglicher sei als Wind und Sonne. Zukünftige Reaktoren der dritten und vierten Ge­neration könnten zudem durch ein grundlegend neues Design die heutigen Sicherheitsrisiken praktisch ausschliessen und auch die Problematik der Endlagerung erheblich verringern. Die dafür notwendigen Innovationen soll eine Art ­weltweites «Super Apollo»-Programm ­sicherstellen. 

Wissenschaft begründet keine Politik

Ganz offensichtlich ist die Entscheidung, wie wir den Strom für die weitere ­Elektrifizierung der Welt produzieren, aber nicht nur eine Frage von Erstel­lungskosten, Schadensummen und Risiken. Sie ist vielmehr das Ergebnis von vielschichtigen Präferenzen und Ab­wägungen der unterschiedlichen Akteure in unserer Gesellschaft. 

«Studienergebnisse sind in erster Linie Argumente, die uns helfen, die Konsequenzen unserer Entscheidungen abzuschätzen,» hält Michael Esfeld fest. Der an der Universität Lausanne lehrende Philosoph betont, dass sich ­politische Entscheide prinzipiell nicht wissenschaftlich begründen lassen: «Die Naturgesetze sind zwar deterministisch. Was wir untersuchen, wie wir es tun und wie wir die Erkenntnisse gewichten, liegt aber an uns. Aus der Physik ­folgen keine Handlungsanweisungen.» 

Mit Vielfalt und Poppers Prinzip

Die Krux bei der Transformation des Energiesystems liegt darin, dass der notwendige grundlegende Wandel nur ­stattfinden kann, wenn zahlreiche Hebel gleichzeitig in Bewegung gesetzt werden. Das belegen auch diverse Untersuchungen im Rahmen der Nationalen Forschungsprogramme 70 und 71. Die Kunst wird also darin bestehen, ein Mass an Destabilisierung zu finden, bei dem nicht die Nebenwirkungen überhandnehmen.

Der Erfolg versprechendste Weg dafür ist für Esfeld das Trial-and-­Error-Prinzip, wie es der Philosoph Karl Popper propagiert hatte. Dieses funktioniert umso besser, je grösser die Vielfalt an Alternativen ist, die zur Verfügung stehen. Dem pflichtet auch Sornette bei: «Aus systemtheoretischer Sicht sollte man sich immer möglichst viele Optionen offenhalten und keine allzu eng gesteckten Ziele anvisieren.» Dies erhöht die Handlungsfähigkeit, wenn sich die Zukunft nicht wie geplant entwickelt. Und das tut sie früher oder später immer, darin sind sich Philosophie und Physik einig.