Alles ist in Bewegung! Und alles rasend schnell! 

Die Klage tönt in den westlichen Wohlstandsgesellschaften. Das ganze vertraute System bewegt sich in Höchstgeschwindigkeit, so schnell, dass man nichts mehr erkennen kann. 

Das Bild ähnelt dem aus dem Fenster eines dahinrasenden Zuges, in dem die Konturen der Landschaft bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Orientierung und Überblick verschwinden. Dagegen hilft nur eins: mehr Bewegung, aber diesmal die richtige. 

Gehen wir nach hinten zum letzten Waggon. Dort gleitet die Vergangenheit vorbei, recht übersichtlich. Und ganz vorn, aus der Perspektive des Lokführers, sieht es ebenfalls halbwegs übersichtlich aus. Nur die Gegenwart ist schwer zu erkennen. Und je mehr man sich an sie klammert, desto unschärfer wird das Bild. 

Das ist das Bewegungsparadox. Man kann Bewegung nur aus der Bewegung heraus verstehen. Im Stillstand wirkt sie bedrohlich. Die satten Wohlstandsgesellschaften aber bleiben lieber sitzen und starren zunehmend ängstlich aus dem Fenster, statt sich in Bewegung zu setzen. Es herrscht, wie Paul Virilio es sagte, «rasender Stillstand». 

Wir sind nicht in Bewegung, wir landen im Verkehr, und der ist die Hölle. Zürcher stehen nach der Inrix-Studie 2016 mehr als 50 Stunden im Jahr im Stau. Der Durchschnittsschweizer erleidet 27 Stunden Stau jährlich. Das ist vor allem so, weil Auto, Bahn und Bus nach den Regeln der alten Industriegesellschaft getaktet sind, weil unsere Arbeitswelt sich nicht vom alten Schichtbetrieb lösen will. Wissensgesellschaft hin, Digitalisierung her – wir fahren morgens, mittags und abends hin und zurück, zu Schule, Arbeit, Kindergarten, Firma und Behörde. 

Die Anwesenheitspflicht schadet Umwelt, Mensch und natürlich auch der Effektivität menschlicher Arbeit. Unsere Bewegungskultur ist von gestern, weil unsere Organisationsformen von gestern sind. Und was man an Arbeitsverkehr spart, holt sich die Freizeitmobilität wieder. Auf zum Flughafen, los zum Shopping. Verbote führen zu nichts. Die Digitalisierung wird uns eher zur Vernunft bringen und bessere Zugangssysteme schaffen, bei denen alle Verkehrsmittel verbunden werden. Dabei wird es mehr um nüchterne Logistik und bequeme Zugänge gehen als um Moral und Vorurteil. Mobilität lässt sich nicht stoppen. Sie ist das Leben.

Das Bewegungsparadox beginnt mit der Sesshaftwerdung der Menschen. Jäger und Sammler mussten sich bewegen, um die wenigen Ressourcen, die sie hatten, auszuschöpfen. Die Sesshaftigkeit verbessert die Versorgungslage, weckt aber auch Neugier und Begehrlichkeiten, die zu den Schutzengeln der Menschheitsgeschichte gehören. Wer nicht ständig ums nackte Überleben kämpft, kann sich geistig bewegen, denkt nach, wünscht, hofft. Das ist Entwicklung, die Beweglichkeit des Geistes. Und gleichzeitig die Erfindung der Freiheit, die es ohne Neugier nicht gäbe. Eine Folge waren feste Routen und Wege. Man konnte seinen Clan hinter sich lassen. Verkehr ist Mittel zum Zweck, die Überwindung des Raumes, um zu bekommen, was man will. Die Fähigkeit, die besten Strassen
zu bauen, machte Rom zum Imperium. Und Bewegungsfreiheit war dort gleichsam Bürgerrecht. 

Noch bis ins 20. Jahrhundert stand das Wort «Verkehr» nicht nur für Stau und Lärm, sondern für die Pflege sozialer Beziehungen, «die selbst gewählten Verhältnisse der Menschen zueinander», wie Kant sagte. Mobilität ist freiwillig. Bewegung ist Beziehung, auch und ganz besonders in einer Netzwerkgesellschaft. Je virtueller die Beziehung, je abstrakter die Arbeit, desto mehr wächst die Sehnsucht nach Realem, Handfestem. Die Wahrheit übers Internet hat der Techniksoziologe Bruno Latour auf den Punkt gebracht: «Auch ein grosses Netz bleibt in allen Punkten lokal.» Niemand kann aus seiner Haut, auch wenn er immer online ist. 

Die Parallelwelt von «Second Life», vor mehr als einem Jahrzehnt der grosse Renner, wirkt heute lächerlich. Auch hier gilt: Wir haben nur eine Welt. In der müssen wir uns bewegen und lernen, miteinander auszukommen. Sich bewegen, ohne die anderen über den Haufen zu rennen, ist Zivilisation. 

Nach Besserem suchen ist menschlich; wenn wir aufhören, das zu tun, hat die Gesellschaft ihren Geschäftszweck aufgegeben. Der besteht in Selbstbestimmung – erst Freiheit und Bewegung ergeben die Bewegungsfreiheit. Das ist das grundlegendste Menschenrecht von allen. Die freie Entscheidung, zu leben, wo man will. Das gilt für Mobilisten ebenso wie für 

sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge – und alle anderen Formen des Verkehrens. Über Details – die Verkehrsregeln – muss man verhandeln. Aber Bewegung lebt nicht von Begrenzung, sondern von barrierefreien Zugängen im Denken wie im Handeln. 

Die Bewegung sind wir selbst. Stehen wir vom bequemen Platz auf und laufen los. Dann sieht die Welt schon mal anders aus. Sie bewegt sich – und uns gleich dazu.